Was ist die HeldInnenreise?

Das Konzept der „Heldenreise“ beruht auf der Idee, dass jede Geschichte einer archetypischen Grundstruktur folgt und durch eine chronologische Situationsabfolge gekennzeichnet ist. Geprägt hat den Begriff Joseph Campbell. Der amerikanische Mythenforscher hat die Epen und Mythologien der Welt untersucht und festgestellt: alle großen Mythen erzählen dieselbe Geschichte in verschiedenen Variationen. Campbell nennt das den „Monomythos“. Im Mittelpunkt steht immer ein Held, der auf große Fahrt geht, um ein Problem zu lösen und eine äußere Gefahr abzuwenden.

The Hero’s Journey

Campbell beschreibt in seinem Buch „The Hero with a 1000 Faces“ (Der Heros in 1000 Gestalten) bis zu siebzehn unterschiedliche Stationen, die der Held durchläuft. Danach kann die Heldenreise in drei Hauptteile eingeteilt werden:

  • Separation des Helden von seiner gewohnten Umgebung
  • Initiation
  • Rückkehr nach Hause mit dem „Elixier“

Sein Buch wurde zum Bestseller und hat viele Autor:innen und Filmemacher:innen geprägt, so auch George Lucas, der Star Wars nach Campbells Heldenreise gestaltete. Auch der Hollywoodberater, Filmprofessor und Autor Christopher Vogler arbeitet in seinem Buch „The Writer’s Journey“ (deutscher Titel: Die Odyssee der Drehbuchschreiber, Romanautoren und Dramatiker. Mythologische Grundmuster der Heldenreise für Schriftsteller) die universalen Erzählstrukturen der Heldenreise heraus und bricht Campbells Stationen auf zwölf „Stadien“ herunter. Außerdem nimmt er die Aristotelische Tragödientheorie auf und arbeitet sie zu einem Modell für Drehbuchautoren aus. Demzufolge bauen die Handlungen dramaturgisch aufeinander auf und sind nicht austauschbar. Der Drehbuchautor Blake Snyder unterscheidet fünfzehn „Beats“ bzw. „Story Points“ und gibt sogar die Seitenzahlen vor, die jede Station haben sollte.

Der Held folgt seiner Intention

Die Heldenreise wurde bei Drehbuchautoren schnell beliebt, weil sie die Handlungen der Figuren in eine dramaturgische Logik bringt und damit einen stringenten Plot formt. Der Held ist sich seiner Mission bewusst und hat ein klares Ziel vor Augen, eine Handlung ergibt sich aus der nächsten und kulminiert in einem großen Konflikt, bei dem der Antagonist/die Antagonistin schließlich besiegt wird. Die Handlungen des Helden – die männliche Form steht hier für den klassischen Hollywoodprotagonisten, der aber auch durch eine Frau verkörpert werden kann (siehe Alien 3 oder Tomb Raider) – sind berechenbar. Deswegen funktioniert die Heldenreise sehr gut für Action- und Abenteuerfilme, Science Fiction und Fantasy, Thriller und Krimis, weil sie Variationen der Heldenfahrt beschreibt. Auch viele Hollywood-Dramen und Netflix-Serien folgen meist dieser Dramaturgie.

Egal ob die Heldenreise drei oder fünf Akte, 12, 15 oder 17 Stationen vorsieht, die Heldenreise beschreibt immer einen linearen Weg, der bestimmte menschliche Grundsituationen und Handlungsmuster beinhaltet: Einbruch des Neuen in die gewohnte Welt, Aufbruch, Schwellenüberschreitung, Zielerreichung, Höhepunkt, Prüfung, Scheitern, Verlust, die dunkle Nacht der Seele, überraschende Wendung, Wiederauferstehung, Rückkehr. Doch das Modell der Heldenreise ist „action driven“, es beschreibt die äußeren Handlungen der Figuren, treibt sie quasi Station nach Station voran. Sie bietet den männlichen oder weiblichen Held:innen wenig Möglichkeiten, anders oder auch mal gar nicht zu handeln, innezuhalten oder nach innen zu gehen. Die Heldenreise macht die Handlungsmuster berechenbar. Und sobald ein Film die klassische Heldenreise nicht bedient, wird er meist als Art House- oder Experimentalfilm eingestuft. Die Erzählweisen dieser Geschichten sind subtiler und nicht so leicht durchschaubar, manchmal sogar rational nur schwer nachvollziehbar. Entsprechend sind ihre Heldinnen und Helden geheimnisvoller, rätselhafter, dunkler, und sie handeln traumwandlerischer, überraschender, intuitiver.

Die Heldin folgt ihrer Intuition

Die von Handlungen bestimmte Heldenreise funktioniert nicht für mein Schreiben. Ich verwende sie nur als Folie, von der ich teilweise bewusst abweiche. Deswegen habe ich für mein Schreiben die Heldinnenreise definiert. Die Heldinnenreise folgt einer emotionalen Dramaturgie, wird von Gefühlen, Wünschen, Ahnungen, Ängsten, Träumen, Bedürfnissen, Begehren, Lust, Intuition, Impuls, Instinkt, ja vom Nervensystem bestimmt, also vom Körper und von seinen teils unbewussten, manchmal sogar irrationalen Reaktionen auf die äußeren Ereignisse und Handlungen der anderen. Als ehemalige Theaterdramaturgin versuche ich mich immer in meine Figuren einzufühlen und herauszufinden, welche Motivation hinter ihren Handlungen steht. In seiner Poetik definiert Aristoteles die „Katharsis“ als Wirkungsabsicht des Dramas. Das altgriechische Wort steht für „Reinigung“ und das bedeutet, dass die Akteure eine „Reinigung der Gefühle“ bewirken sollen. Heute würden wir „Transformation“ dazu sagen. Die Heldinnenreise hat die Transformation zum Ziel und entwickelt ihre Reiseroute aus dem Innenleben der Figuren heraus. Dabei kommt die Heldin auch an die genannten archetypischen Stationen, aber sie macht andere Erfahrungen. Sie nimmt anders war. Die Heldin macht nicht so viel, sie fühlt. Sie erlebt ihren Körper und seine sinnlichen Empfindungen, Emotionen und Gefühle und projiziert sie nach außen, auf die Umgebung, Landschaft, Architektur, Tiere, Pflanzen, Objekte und auf andere Figuren. Ihre Reise führt nach innen – Die Heldin geht auf Held-Innenreise. Bei der HeldInnenreise kommt das Problem von innen, tritt als unverheilte Wunde hervor, als Erinnerung, Traum(a) oder Schmerz. Die Heldin bricht aus einem Impuls heraus auf, folgt ihrer inneren Stimme. Ihre Begleiter:innen, Mentor:innen, Schwellenhüter:innen weisen ihr den Weg ins Reich der eigenen Schatten – ihrer wahren Antagonistin – der sie sich mutig stellt, denn ihr einziges Ziel ist die Integration verlorener Seelenanteile und wieder (ge)heil(t) zu sein. Ihre Selbstintegration ist das Elixier, das sie zurückbringen wird, um es in den Dienst der Gemeinschaft und des Planeten zu stellen.

Die Mission der Heldin offenbart sich, wenn ich mich als Autorin auf die Figuren einlasse und ihre Handlungen nicht vorwegnehme. Wenn ich meine Figuren befrage, ob sie vom vorbestimmten Weg abweichen wollen und wohin ihre innere Stimme oder ihr Körper sie führt. Ich beschreibe meine Held:innen nicht, sondern ich kreiere eine Beziehung zu ihr oder ihm (wie gesagt, auch ein männlicher Held kann auf HeldInnenreise gehen und sollte, wenn er alle seine Seelenanteile, männliche und weibliche, integrieren möchte). Als Romanautorin halte ich den Raum, um meine Figuren frei gewähren und mich von ihrer Weisheit überraschen zu lassen. Je mehr ich meinen Figuren vertraue, umso mehr öffnen sie sich. Während ich ihnen folge, begebe ich mich selbst auf meine eigene SchreibheldInnenreise.

4 Kommentare

  1. Wow. Ich finde diese Thematik unglaublich spannend! Eine Freundin von mir ist seit Jahren Autorin, inklusive Bestseller und Verfilmung. Ich bewundere es, wenn Autorinnen es immer wieder schaffen, fiktive Charaktere auf die Reise zu schicken und uns teilhaben lassen, wenn es gelingt den Spannungsbogen zu halten. Ich schreibe sehr gerne, aber würde es mir derzeit nicht zutrauen auch nur ansatzweise darüber nachzudenken ein Buch zu schreiben. Ich habe sehr viel Respekt, wenn jemand das durchzieht und auf die Beine stellt. Hut ab.

    1. Liebe Katrin,

      vielen lieben Dank für Deinen Kommentar, über den ich mich sehr freue. Ja, am Spannungsbogen arbeite ich noch 😉 Wenn Du gerne schreibst, bin ich mir sicher, dass auch in Dir eine Geschichte und ein Buch schlummert. In meinem nächsten Blog-Artikel gebe ich 7 (vielleicht werden es auch noch 10) Tipps für angehende HeldInnenreisende. Schau einfach wieder vorbei, vielleicht beginnt dann auch Deine Schreibreise. Viele Grüße aus Tübingen!

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